Die schier unendliche Flut an Software-Tools, Plattformen und „All-in-One“-Lösungen vermittelt schnell den Eindruck: Irgendetwas davon muss doch passen!
Doch bei näherer Betrachtung stellt sich oft erst nach dem Kauf heraus, dass das eigentliche Kernproblem gar nicht klar war – oder möglicherweise gar nicht existiert. Besonders Unternehmen, die seit Jahren auf eingefahrenen Prozessen aufbauen, sollten sich fragen: „Ist unser Problem überhaupt dringend genug für diese neue Lösung?“ Wie prominente Beispiele von Lidl vs. SAP oder die großen Tech-Giganten Meta, Apple und Microsoft verdeutlichen, führt ein unreflektiertes Schielen auf Trends und Tools häufig zu Frustration und vergeudeten Ressourcen.
In diesem Beitrag erfahren Sie, warum es unerlässlich ist, zunächst den wahren Engpass zu identifizieren und anschließend in Lösungen zu investieren, die genau darauf zugeschnitten sind – statt umgekehrt.
Das Phänomen “Scheinlösung”: Volle Märkte, leere Versprechen
Kommt Ihnen das bekannt vor? Ob Meta sein Metaverse weiter vorantreibt, Apple jedes Jahr ein neues iPhone präsentiert oder Microsoft ständig neue Features für Teams einführt – alle möchten uns glauben machen, ihre Lösung sei der ultimative Gamechanger. Doch oft stellt sich die Frage: „Haben wir das eigentliche Problem überhaupt definiert?“
Schauen wir uns nur Klassiker wie Lidl vs. SAP oder das medienwirksame Chaos rund um Twitter (nach Elon Musks Einstieg) an, wird deutlich: Wer nicht erst das Warum klärt, läuft schnell Gefahr, eine vermeintliche Lösung ohne passendes Problem zu haben. Das Ergebnis? Zahlreiche verschwendete Ressourcen und frustrierte Anwenderinnen und Anwender. Dabei wäre es so einfach, zunächst den eigentlichen Engpass zu ermitteln – anstatt mit großem Marketingaufwand eine vermeintliche Wunderwaffe auf den Markt zu werfen.
Allzu häufig sind diese Lösungen lediglich ansprechend verpackt, greifen jedoch nur ein 08/15-Problem auf – oder erzeugen Probleme, die es zuvor gar nicht gab. Hauptsache, ein Produkt wird verkauft. Hauptsache, jemand kauft.
Das echte Problem: Manchmal schlicht nicht vorhanden
Gute Produkte oder Dienstleistungen lösen ein echtes Problem. Aber was, wenn dieses Problem gar nicht existiert oder zumindest kaum Relevanz hat? Dann ergeben sich folgende Szenarien:
- Niemand benötigt es:
Vielleicht finden sich ein paar Early Adopters, die aus Neugier Neues ausprobieren. Doch der große Durchbruch bleibt aus. - Wer es kauft, nutzt es nicht:
Wenn die Wurzel der eigenen Herausforderungen gar nicht angesprochen wird, bleiben die Tools ungenutzt. Und langfristig zahlt niemand für ein Werkzeug, das im digitalen Regal verstaubt. - Verärgerung über Fehlinvestitionen:
Gerade etablierte Unternehmen, die über Jahrzehnte hinweg individuelle Prozesse entwickelt haben, sind nicht begeistert, wenn ein neues Tool eingeführt wird und es letztlich kaum jemand verwendet.
Fazit: Wer ein Problem lösen will, benötigt zunächst ein klar definiertes Problem – oder muss sich die Zeit nehmen, es eindeutig zu identifizieren.

Nach sieben Jahren und Kosten von mehr als einer halben Milliarde Euro hat Lidl die Einführung des neuen Warenwirtschaftssystems ‚Elwis‘ gestoppt. Die eigentlichen Ziele waren ‚nicht mit vertretbarem Aufwand‘ erreichbar – Experten sprechen bereits von einem Milliardengrab.
Der Trugschluss: „Das haben wir schon immer so gemacht“
In vielen, insbesondere älteren Unternehmen, sind Prozesse über Jahrzehnte gewachsen – häufig sehr individuell und perfekt auf den Betrieb zugeschnitten. So etwas lässt sich nicht von heute auf morgen ändern. Unabhängig davon, ob die Prozesse kompliziert oder veraltet sind:
- Es existiert eine gefestigte Kultur, wie die Dinge laufen.
- Die Mitarbeitenden haben sich daran gewöhnt.
- Maschinen, Schnittstellen und Lieferantenbeziehungen sind genau darauf ausgerichtet.
Kommt nun eine Standardsoftware daher, die angeblich alles verbessert, führt dies häufig zu:
- Unnötigem Widerstand (niemand ist von einer unpassenden Lösung begeistert),
- Medienbrüchen (wenn die Schnittstellen der Standardsoftware nicht kompatibel sind),
- Mehrkosten (Lizenzmodelle, die in vollem Umfang gar nicht benötigt werden).
Die eigentliche Frage lautet: Löst die Standardsoftware tatsächlich das spezifische Problem – oder zwingt sie Ihr Unternehmen in ein Korsett, das Sie stark einschränkt?
Wie man das Problem entdeckt – Agile Edition
Damit eine Softwarelösung wirklich einen Unterschied macht, muss klar sein, welches Kernproblem es zu lösen gilt. Im agilen Umfeld bedeutet das, Hypothesen frühzeitig zu validieren, schnell Feedback einzuholen und nicht erst am Projektende festzustellen, dass man sich auf die falsche Baustelle konzentriert hat.
Nutzer*innen früh einbinden
Im agilen Prozess (z. B. mit Scrum oder Kanban) ist es essenziell, dass diejenigen, die am meisten mit dem Problem konfrontiert werden – also Kundinnen, Mitarbeitende oder Lieferant*innen – in jeder Projektphase eingebunden sind. Das geschieht beispielsweise durch:
- User Stories: Formulieren Sie in knappen Sätzen, was Anwender*innen benötigen und warum.
- Backlog Refinements: Diskutieren Sie, ob bestimmte Umsetzungen wirklich nötig sind oder ob ein anderes Feature wichtiger ist.
Die 5-Warum-Methode – Stand-ups Edition
Wenn im Team bemängelt wird, dass „Prozess XY zu lange dauert“, hinterfragen Sie im Daily Stand-up ruhig mehrfach, Warum das so ist. Häufig offenbart sich beim zweiten oder dritten „Warum?“ eine tiefere Ursache, anstatt nur Symptome zu bekämpfen.
Quick Wins, Prototypen & MVPs
Ein agiles Minimum Viable Product (MVP) oder ein Prototyp verschlingt nicht gleich enorme Budgets und erlaubt, im kleinen Maßstab zu testen, ob der Lösungsansatz tragfähig ist.
- Sprint Reviews: Optimal, um auf frühe Prototypen Feedback zu erhalten.
- Inkrementelles Vorgehen: Jeder Sprint liefert ein neues Teilfeature, das direkt auf Praxistauglichkeit geprüft wird.
Regelmäßige Retrospektiven & Ehrlichkeit
Nach jedem Sprint erfolgt die Retrospektive, in der offen reflektiert wird, was gut funktionierte und was nicht. Oft zeigt sich dabei, dass das vermeintlich große Problem gar nicht mehr existiert – oder dass inzwischen andere Engpässe wichtiger sind.
Retros als Reality Check: Mitunter war das angebliche Mega-Problem lediglich ein kleiner Stolperstein, den man schnell umgehen kann. Genauso können neue Daten auf ein dringenderes Thema verweisen, das Priorität haben sollte.
Agiles Leitmotiv: Wert schaffen
In der agilen Welt ist der Mehrwert für die Anwenderinnen und Anwender stets im Mittelpunkt. Jeder Sprint ist eine kleine Überprüfung: „Löst das, was wir entwickeln, tatsächlich das Problem?“ Wenn nicht, wird umgehend nachjustiert.
Kurz gesagt:
- Frühzeitig Feedback einholen
- Iterativ entwickeln
- Immer wieder hypothesenbasiert prüfen, ob man am richtigen Problem arbeitet
- Fokus auf echten Mehrwert statt auf das blinde Abarbeiten eines Plans
So stellen Sie sicher, dass Ihre individuelle Softwareentwicklung nicht zur „Lösung ohne Problem“ wird, sondern wirklich den passenden Engpass beseitigt.
Warum individuelle Software nicht nur „nice to have“ ist
Gerade in Unternehmen, deren Prozesse sich über Jahre oder Jahrzehnte hinweg entwickelt haben, ist Individualsoftware oft kein Luxus, sondern kann zum echten Wettbewerbsvorteil werden – wenn die Anforderungen klar sind.
Einige Gründe, weshalb sich Individualsoftware lohnt:
- Passgenauigkeit: Keine Kompromisse für Branchenstandards oder generische Formulare. Das Tool deckt Ihre Prozesse eins zu eins ab.
- Hohe Flexibilität: Die Software lässt sich jederzeit erweitern oder an neue Anforderungen anpassen.
- Weniger Frust: Keine überflüssigen Funktionen oder komplizierten Menüs, die niemand benötigt.
- Kein Lizenz-Irrsinn: Sie sind nicht an starre Preismodelle oder regelmäßige Gebührenerhöhungen gebunden.
- Eigene Roadmap: Sie entscheiden, wann welche Features kommen – unabhängig vom Zeitplan eines SaaS-Anbieters.
Aber Vorsicht: Selbst die beste Individualsoftware kann ihren Zweck nicht erfüllen, wenn das eigentliche Kernproblem nicht klar ist. Hier kommt es auf einen erfahrenen Partner an, der deine Prozesse versteht und gezielt hinterfragt, wo der echte Engpass liegt.
Nur so verhinderst du Fehlinvestitionen und legst den Grundstein für eine Lösung, die wirklich Mehrwert schafft – statt Ressourcen zu binden, ohne das Problem tatsächlich anzugehen. Mit dem richtigen Know-how an deiner Seite machst du den entscheidenden Unterschied zwischen einer Software, die Ihr Business zu 100% abbildet und skaliert, und einer Software, die nur Ressourcen frisst.
Von der „Lösung“ zum „Proof of Concept“: Denken Sie radikal anders
Wenn Sie oder Ihr Unternehmen an einem Punkt stehen, an dem Sie sich fragen: „Wir brauchen etwas Neues, aber was genau?“, dann sollte der nächste Schritt nicht darin bestehen, direkt eine Lösung zu entwickeln. Stattdessen:
- Problem definieren: Wo liegt der tatsächliche Engpass?
- Hypothesen aufstellen: Welche Ansätze könnten das Problem lösen? Gibt es bereits Lösungen auf dem Markt, die zumindest einen Teilaspekt abdecken?
- Testen & validieren: Beginnen Sie mit Proof of Concepts, MVPs oder Rapid-Prototypen, um zu prüfen, ob Ihr Ansatz tragfähig ist.
- Skalieren: Wenn alles passt, erfolgt der breit angelegte Rollout.
Ohne Problem keine gute Lösung
Die Welt ist voller scheinbarer „Lösungen“. Wenn jedoch nicht klar ist, welches Problem sie angehen, verlieren Sie schnell Geld, Zeit und Nerven. Vor allem in etablierten Unternehmen mit tief verwurzelten Prozessen ist es unverzichtbar, genau zu ermitteln, welche Baustelle wirklich besteht und welche Tools – ob Standard oder maßgeschneidert – wirklich gebraucht werden.
- Fragen Sie sich: „Wo liegt das tatsächliche Problem?“
- Sprechen Sie mit jenen, die direkt betroffen sind.
- Seien Sie offen dafür, dass es möglicherweise gar kein relevantes Problem gibt – oder dass ganz andere Themen vorrangig sind.
So erhalten Sie am Ende nicht irgendeine Softwarelösung, sondern eine, die wirklich benötigt und eingesetzt wird. Und genau das ist doch das beste Resultat: Wenn Sie tatsächlich ein Problem lösen.
Alte Prozesse, neue Software: Lidl und der 500-Millionen-€-Fehlgriff
Ein Paradebeispiel für ein Unternehmen, das im Vorfeld nicht hinterfragte, welches Problem es eigentlich wie lösen wollte, ist Lidl. Dort wurden rund 500 Millionen Euro in ein neues ERP-System auf SAP-Basis investiert – und das Projekt letztlich abgebrochen.
Warum? Weil man versuchte, die Standardlösung auf jahrzehntealte, eigene Prozesse zu übertragen, anstatt ehrlich zu prüfen, wo wirklich Verbesserungsbedarf bestand. Das Resultat: Unüberschaubare Anpassungen, massiver Frust und am Ende eine teure Lehrstunde darüber, wie wichtig es ist, erst die Kernprobleme zu definieren und dann in die richtige Lösung zu investieren. Andernfalls gehen nicht nur Zeit und Geld verloren – auch das Vertrauen der Mitarbeitenden leidet.